Wir interviewten Jeremy von DISTORTED MEMORY zum aktuellen Album „Swallowing The Sun“. Was es darüber zu berichten gibt und was Jeremy zu Themen wie Fukushima, Überbevölkerung und Umweltschutz denkt, erfahrt im folgenden Interview….
Hallo Jeremy, wie geht es dir, wenn du jetzt dein neues Album „Swallowing the Sun“ in den Händen hältst?
Jeremy: Großartig! Es hat sehr lange gedauert, bis es vollendet war und es fühlt sich gut an, etwas geschaffen zu haben und ich bin aufgeregt, was passieren wird. Außerdem bin ich motiviert, weiter zu machen und das Projekt aktiver nach vorn zu bringen.
Wofür steht denn der Albumtitel?
Jeremy: Auf dem oberflächlichsten Bedeutungsniveau ist es eine Sonnenfinsternis, wenn sich Dunkelheit ausbreitet. Darunter verbirgt sich noch die Bedeutung einer von Menschenhand verursachten Sonnenfinsternis. Eine Sonne, die sich verdunkelt und schwarz wird, ist dabei keine natürliche Sache, sondern sie wird von der Menschheit „verschluckt“, die eine katastrophale Dunkelheit auf unserer Erde erzeugt.
Kannst du uns etwas zum Bandnamen „Distorted Memory“ sagen?
Jeremy: Unglücklicherweise ist da kein tieferer Sinn dahinter. Ich könnte da jetzt viele unterschiedliche und interessante Bedeutungen hineindeuten, aber die Wahrheit über den Namen ist einfach, dass ich ihn als Online-Screen-Namen benutzt habe, als ich 14 Jahre jung war. Zu dieser Zeit habe ich angefangen, Musik zu machen. Als ich meine ersten Gehversuche wagte, habe ich die Musik einfach als Distorted Memory bezeichnet, um sie mit Leuten zu teilen. Als es dann immer bekannter wurde, bin ich einfach bei diesem Namen geblieben.
Und wie bist du an das deutsche Label NoiTekk gekommen? Hast du sie selbst angefragt, oder was ist damals passiert?
Jeremy: Im Jahr 2002 habe ich eine Demo-CD „Left Alone to Die“ gemacht, um bei einem Label gesignt zu werden. Ich habe nur ein paar Kopien versendet, vielleicht vier oder fünf. Nur zu Plattenfirmen, die ich wirklich mochte. Eine davon war NoiTekk, die auch als erste antworteten. Da das damals quasi mein Lieblingslabel war, habe ich mich dann auch für NoiTekk entschieden.
Wie würdest du die Musik von Distorted Memory beschreiben?
Jeremy: Ich mag den Begriff Dark Electro. Damit fühle ich mich am meisten verbunden. Die Musik auf „Burning Heaven“ hatte einen starken Hardtrance-Einfluss, aber der ist immer mehr in den Hintergrund getreten. Ich mag derzeit vielmehr Ethno und Tribal-Elemente in meine Musik einzuarbeiten. Distorted Memory ist aber immer noch düster. Ich denke, dass ein weiterer Aspekt meiner Musik die Atmosphären der Songs sind, selbst bei den härteren und eher cluborientierten Stücken. Für mich ist es einfach wichtig, eine starke Emotion in meiner Musik zu transportieren und nicht nur Musik für Clubs zu machen.
Das Projekt wurde ja 1999 aus der Taufe gehoben. Wie hat es damals angefangen?
Jeremy: Es war eigentlich purer Zufall. Ein Freund hat mir eine einfache Musiksoftware installiert und ich habe etwas damit rumgespielt. Ich hatte keine musikalische Ausbildung und ich wusste eigentlich nichts darüber, wie man Musik macht. Zu dieser Zeit habe ich viel die alten Suicide Commando, The Klinik und Leaetherstrip gehört und mir wurde klar, dass es gar nicht so schwierig ist, auch selbst solche Musik zu machen. Ich habe eine Weile kurze Songs just for fun gemacht und sah nach einer Weile Potential dahinter. Ich habe dann gelernt, wie man richtig Musik macht und konnte so ein ernsthaftes Projekt anfangen.
Was sind deine musikalischen Einflüsse, die dich bei Texten und der Musik inspirieren?
Jeremy: Musikalisch lasse ich mich gern von verschiedenen Richtungen, vor allem außerhalb der Industrialgenres, inspirieren. Ich höre eine Menge Weltmusik, Metal, Techno und Indie-Synth-Musik. Texte und Inhalt werden eher von meiner Umgebung beeinflusst. Ich schreibe da aber weniger über persönliche Erfahrungen, sondern viel mehr über globale Dinge oder Ideen. Ein großer Einfluss ist meine Abneigung gegen Religion, aber auch Umwelt- und Gesellschaftsthematiken.
Im Jahr 2007 hast du dein Debüt „Burining Heaven“ veröffentlicht. Das ist eine lange Zeit von 1999. Was ist in den acht Jahren dazwischen so alles passiert?
Jeremy: Nachdem NoiTekk das Demo gehört hatten, sollte ich ein ganzes Album machen. Ich habe mich also hingesetzt und ein volles Album geschrieben. In dieser Zeit, als ich an der Produktion saß, fühlte ich immer mehr von Industrialmusik gelangweilt. Sie kopierte sich immer nur noch selbst. Ich habe viele neue Stile für mich entdeckt, die mich wirklich begeisterten. Zu dieser Zeit konnte ich mich nicht wirklich entscheiden, ob ich das Album wirklich veröffentlichen wollte. Ich fand, dass ich damit nicht wirklich etwas Neues in diese stagnierende Szene bringen würde. Ich habe zwischenzeitlich mit anderen Stilen experimentiert und mein Breakcore-Projekt Cakebuilder gegründet, das ziemlich erfolgreich wurde.
Nach einer Weile wollte ich aber dann doch wieder Industrial machen, aber auf meine eigene Art und Weise. Also habe ich mit „Burning Heaven“ angefangen. Ich denke noch immer, dass das ursprüngliche Album einige gute Stücke hatte, die man veröffentlichen könnte. Ich wollte sie nur nicht auf dem Debütalbum haben, damit die Leute keinen falschen Eindruck von meiner Musik bekommen. Im September 2011 werde ich auf NoiTekk eine Limited Edition CD mit Namen „Archive 1999-2003“ veröffentlichen, die das Beste und Interessanteste früheren Materials beinhalten wird.
Siehst du „Swallowing The Sun“ als eine Art Fortsetzung des ersten Albums oder hast du versucht, in eine komplett andere Richtung zu gehen?
Jeremy: Es sollte ursprünglich eine Fortsetzung werden, am Ende ist das jedoch eher nur ein loser Zusammenhang geworden. Definitiv sind da Ideen dabei, die an das erste Album anknüpfen, aber es sind auch viele Motive enthalten, die vollkommen losgelöst davon zu sehen sind. Ich denke, der Sound des neuen Albums hat auch viele neue Ideen und ich werde das auch auf dem dritten Album fortsetzen und weiterentwickeln.
Thematisch bezeichnest du ein Bild einer Menschheit, die die Natur zerstört hat und dadurch selbst machtlos wird. Glaubst du, dass diese Zukunftsvision Realität werden wird?
Jeremy: Ich würde nicht behaupten, dass das definitiv wahr werden muss, aber ich denke, dass so etwas passieren kann, wenn wir nicht aufpassen. Die Menschheit war bisher sehr erfolgreich, weil wir die Welt um uns herum ausgebeutet haben. Über die Jahre sind wir einfach zu erfolgreich geworden.
Die Welt ist total überbevölkert und wir haben nicht die Resourcen, uns selbst am Leben zu erhalten, wenn wir sie weiter so sorglos missbrauchen. Bereits jetzt leben wir mit einem Resourcendefizit. Wir verbrauchen mehr, als wir zurückgeben – und damit werden wir alles aufbrauchen. Ich denke, dass es glücklicherweise in den letzten Jahrzehnten einige vielversprechende Fortschritte in Sachen Technologie, Verantwortungsbewusstsein und Umweltschutz gegeben hat, aber es gibt noch zu viele Großkonzerne und finanzielle Interessengruppen, die diesen positiven Wandel im Umgang mit unserer Umwelt aufhalten wollen.
Und entsprechend zu diesem Thema: Deine Meinung zum Unglück in Fukushima?
Jeremy: Dieses Thema möchte ich eigentlich nicht so sehr kommentieren, denn wenn man hierbei etwas anderes als Anteilnahme ausspricht, könnte das hart und gefühllos erscheinen. Ich fühle natürlich tiefe Traurigkeit angesichts der betroffenen Menschen, aber auf der anderen Seite sehe ich es als perfektes Beispiel dafür, wie wir uns in gefährliche Situationen manövrieren, indem wir die Naturgewalten als uns gegeben ansehen. Japan ist ein dicht besiedeltes Land auf einem der empfindlichsten Stellen unseres Planeten, wenn es um Erdbeben geht. Atomanlagen in diesem Gebiet ohne perfekte Sicherheitsvorkehrungen zu bauen, erscheint mir sehr verantwortungslos. Ich glaube nicht, dass Kernkraft in Japan eine schlechte Entscheidung ist, da ihre Energieressourcen sehr begrenzt sind, aber die Entscheidung, diese Anlage ohne perfekte Sicherung gegen Naturkatastrophen in diesem Teil der Erde zu bauen, nur um Kosten zu sparen, war eine typisch menschliche Kosten-Nutzen-Rechnung. Ich hoffe nur, dass diese Situation als ein Weckruf an die Welt gesehen wird, obwohl ich das bezweifeln möchte.
Was hältst du von Umweltschutz?
Jeremy: Ich denke, dass das eines der wichtigsten Themen unserer Zeit ist. Ich bin jetzt nicht so links, dass ich denke, wir sollten aufhören, die natürlichen Rohstoffe zu nutzen, aber ich finde, wir sollten das verantwortungsvoll im Hinblick auf Langzeiteffekte tun. Die Kanadische Holzindustrie ist ein perfektes Beispiel dafür. Kanada hat eine der größten Forstwirtschaften der Welt und für jeden gefällten Baum werden zwei oder drei nachgepflanzt. Nur Bäume eines bestimmten Mindestalters werden gefällt. Und heute sind Kanadas Wälder damit gesünder und kräftiger geworden als jemals zuvor genau WEGEN der Holzindustrie. In einer solchen Situation können sowohl die Umwelt als auch die Bankkonten der Unternehmen gedeihen. Durch das Nutzen von Ressourcen in einer nachhaltigen Art und Weise können wir unsere zukünftigen Ressourcen absichern und damit auch den Profit, aber auch eine geschützte Umwelt. Ich finde, dass viel mehr Industriezweige auf der Welt so funktionieren sollten!
Okay, zurück zur Musik. Wir können uns also auf elf Tracks harter elektronischer Musik freuen, die mal melancholisch, mal mitten ins Gesicht treffen. Wie schreibst du denn die Texte passend für die Musik oder eher gar die Musik auf den Text?
Jeremy: Meine Songs fangen eigentlich nie mit Texten an. Ich beginne meistens mit einer Melodie. Ich stelle eigentlich meistens den Song instrumental fertig, bevor ich überhaupt an Texten arbeite. Wenn ich einen Song schreibe, dann weiß ich meistens schon, wo der Text hingehört und habe auch ein grobes Thema, um das es gehen soll. Für „Swallowing The Sun“ habe ich das gesamte Album musikalisch geschrieben, bevor ich ins Studio gegangen bin und alle Vocals mit dem gleichen Setup am Stück aufgenommen habe – damit lagen sie zeitlich sehr eng beieinander und das erbrachte die Konsistenz.
Du arbeitest ja als Solokünstler. Hast du schon mal mit dem Gedanken gespielt, jemanden an der Studioproduktion zu beteiligen oder sogar als Band zu arbeiten?
Jeremy: Ich habe darüber schon sehr oft nachgedacht, aber ich denke, dass das nicht richtig funktionieren würde. Ich bin zu perfektionistisch, was mein Material angeht, um jemanden daran arbeiten zu lassen. Das ändert sich aber langsam, denn Tim, mein Live-Supporter, hat in der letzten Zeit auch etwas Einfluss auf die Studioproduktion und das Schreiben von Songs genommen.
Tim Doerksen unterstützt dich ja, wie gerade erwähnt, als Livemusiker auf der Bühne. Kannst du ihn uns mal kurz vorstellen?
Jeremy: Tim kenne ich schon viele Jahre. Wir haben damals in einem Plattenladen zusammen gearbeitet und sind so gute Freunde geworden. Er kommt aus einer ganz anderen musikalischen Stilrichtung und hat mit der Industrialszene nichts zu tun. Er selbst ist Singer/Songwriter und schreibt akustische Musik. Seine musikalischen Fähigkeiten und Einflüsse sind so komplett verschieden von meinen, dass ich ihn mit ins Boot holen möchte. Er bringt eine komplett andere Perspektive mit und hört die Musik mit einem anderen Gehör als jemand, der nur auf EBM trainiert ist. Es ist aber interessant, dass wir, obwohl wir musikalisch so verschieden sind, eigentlich grundlegend gleiche Vorstellungen von Musik haben und deswegen können wir auch zusammenarbeiten.
Der Song „Hand Of God“ sticht aufgrund seines Drumtracks heraus. Erzähl uns doch mal etwas über seine Entstehung!
Jeremy: Ich schreibe viele Songs über Religion, das ist einer davon. Der Song handelt von den Ereignissen, als die religiösen Europäer Nordamerika besiedelten und die Ureinwohner Amerikas auslöschten. Das hatte ja sehr weitreichende soziale Auswirkungen und ist noch bis heute ein Problem. Auf eine Art ist das mein Song für diese Menschen, ein Aufruf an jene, aufzustehen und sich die Kultur zurückzuholen, derer sie beraubt wurden.
Der erwähnte Track ist auch als Remix von Die Sektor auf der Scheibe vertreten, wie kam es denn dazu?
Jeremy: Ich wollte einen Remix auf das Album packen und weil ich ein großer Fan von Die Sektor bin, habe ich die Jungs gefragt. Ich habe ihnen einige Stücke zur Auswahl gegeben und sie haben „Hand Of God“ ausgesucht. Sie haben wirklich fantastische Arbeit geleistet, vor allem in dieser so kurzen Zeit. Ich glaube, sie hatten nur zwei Wochen für den Mix und waren selbst mit Remixarbeiten für andere Bands sehr eingespannt.
Und was kannst du zum Titeltrack „Swallowing The Sun“ erzählen?
Jeremy: Das ist ein recht einfacher Song in Hinblick auf den Text, aber voller Mysterien. Der Refrain ist einfach „Black tyrants, swallowing the sun“. Ich überlasse es dem Hörer, wer diese dunklen Tyrannen sind. Dieser Song kann sehr kontrovers sein, wenn er von den falschen Leuten gehört wird. Das Intro ist zum Beispiel ein Morgengebet aus dem Koran. Das ist mein erster Song, der den Koran und nicht das Christentum angreift.
Das eher technoide „Prey“ ist wirklich sehr gerade heraus. Hinter welcher Beute bist du denn her?
Jeremy: Wir sind alle Beute, ob wir das so sehen wollen oder nicht.
Was sehen denn die „Raven Eyes“ im gleichnamigen Stück?
Jeremy: Der Song handelt davon, dass wir die Welt, die wir zerstört haben, verlassen. Mit der Freiheit des Vogels fliegen wir darüber und sehen mit Vogelaugen, was wir getan haben. Es kommt vielleicht nur bei den englisch Sprechenden rüber, aber „Raven Eyes“ hat eine doppelte Bedeutung, wenn man es spricht, weil es wie „Ravenise“ klingt.
Deine Stimme ist immer extrem verzerrt. Hast du auch mal erwogen, sie ohne Distortion einzusetzen und das Ausdrucksspektrum zu erweitern?
Jeremy: Nicht wirklich. Früher habe ich immer mal noch „cleane“ Vocals im Refrain dazugesungen, wie z.B. bei „Loss Of Faith“. Ich denke, dass diese extremen Vocals die richtige Note zur Musik ausmachen. Auf dem neuen Material werde ich aber vielleicht etwas in die Folkrichtung als Gesang ausprobieren, aber es ist dann wahrscheinlicher, dass man dann jemand anderen hören wird als mich. Ich habe jetzt auch schon auf einem Song mit einer Frauenstimme gearbeitet und es ist möglich, dass Tim seine unglaublichen Stimmfähigkeiten auch einmal für einen Song in den Dienst von Distorted Memory stellen wird.
Wird es auch auch eine Tour zum neuen Album geben?
Jeremy: Das ist ein Thema, an dem ich gerade anfange zu planen. Es ist sehr schwierig, so etwas als Undergroundmusiker von Kanada aus zu organisieren. Reisen in Europa ist wahnsinnig teuer, die USA sind wegen des ganzen Visa- und Papierkrams zu kompliziert und eine Tour in Kanada ist teuer und zeitraubend – allein wegen der riesigen Entfernungen zwischen den großen Städten. Nichtsdestotrotz plane ich zumindest eine kleine Tour für den Sommer.
Vielen Dank, Jeremy, dass du die Zeit gefunden hast, unsere Fragen zu beantworten. Wir wünschen dir natürlich viel Erfolg für deine neue Platte und auch für die Zukunft von Distorted Memory!
Jeremy: Danke! Ich hoffe, dass jeder das neue Album gut finden wird. Bleibt einfach auf Facebook up-to-date für alles Neue und Informationen in der nächsten Zeit…Tschüß!